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CAPITULUM PRIMUM

 

De eo quod quidam solent mirari tam  varias Christianae religionis formas.

 

Solent plerique mirari, et in quaestionem ponere, et interrogando non solum sibi, verum etiam aliis scandalum generare: dicunt enim, et tamquam calumniosi inquisitores interrogant: Quare tot novitates in Ecclesia Dei fiunt? Quare tot ordines in ea surgunt? Quis numerare queat tot ordines clericorum? Quis non admiretur tot genera monachorum? Quis denique non scandalizetur, et inter tot et tam diversas formas religionum invicem discrepantium taedioso non afficiatur scandalo? Quinimo quis non contemnat Christianam religionem tot varietatibus subiectam, tot adinventionibus immutatam, tot novis legibus et consuetudinibus agitatam, tot regulis et moribus fere annuatim innovatis fluctuantem? Quod modo, inquiunt, a quibusdam propter regnum coelorum praecipitur, hoc statim ab eisdem seu ab aliis propter regnum coelorum prohibetur. Quod modo tamquam sacrilegum inhibetur, subito tamquam sanctum et salubre conceditur.

 

 

 

Tales, cum otiosi sunt, inducunt quaestiones, et corda simplicium pervertunt, dicentes omnem religionem tanto esse contemptibiliorem, quanto mobiliorem. Quod enim, inquiunt, est tam mobile, tam variabile, tam instabile, quomodo alicui sapientum digne potest esse imitabile? propria quippe sui varietate probat se respuendum esse. Ecce videmus in Ecclesia Dei, ut aiunt, quosdam emergere, qui pro libitu suo insolito habitu induuntur, novum vivendi ordinem sibi eligunt, et sive sub monasticae professionis titulo, sive sub canonicae disciplinae voto, quidquid volunt, sibi assumunt, novum psallendi sibi adinveniunt, novum abstinentiae modum, et metas cibariorum statuunt, et nee monachos qui sub Regula beati Benedicti militant, nee canonicos qui sub Regula beati Augustini apostolicam vitam gerunt, imitantur: sed omnia, sicut dictum est, pro libitu suo nova facientes, ipsi sibi sunt lex, ipsi sibi sunt auctoritas, et quos possunt, in suam societatem sub praetextu novae religionis colligunt; et in hoc religiosiores videri putantur, si ab omni religiosorum habitu et disciplina sequestrati inveniantur, et tamquam prae caeteris notabiles digito demonstrentur.

 

 

Haec et his similia dicunt, et crebris quaestionibus aliquos inquietant, non manifeste, sed latenter et insidiose religionem lacerantes, et tamquam religionem diligant et amplectantur, dicunt: Utinam alicubi aliquid certi inveniamus, ubi caput nostrum fiducialiter in exspectationem salutis aeternae reclinemus! Qui etiam sunt adeo molesti calumniatores, ut si aliquando viderint aliquem de proposita religione exorbitare, continuo adversus omnem religionem inflammantur, et unius malum omnibus ascribunt, et propter unum apostatam aberrantem, omnes alios in timore Dei et in proposito sancto perseverantes contemnunt et abiiciunt, non attendentes quod scriptum est in Evangelio: Simile est regnum coelorum sagende missae in mare, et ex omni genere piscium congreganti, quam cum impleta esset, educentes, et secus littus sedentes, elegerunt bonos in vasa sua, malos autem foras miserunt. (Matth. XIII, 47, 48) Et in parabola zizaniorum: Sinite utraque crescere, ne forte colligentes zizaniam simul eradicetis et triticum. (ibid. 30) Porro si isti qui de religione sic disputant, et pro sui varietate calumniantur; si, inquam, ipsi de numero religiosorum esse vellent, universa quae nunc eis in scandalum et in destructionem, et ipsa fierent eis in correctionem et in aedificationem, sicut scriptum est: Pax multa diligentibus legem tuam, et non est illis scandalum. (Psal. CXVIII, 167) Et: Sanctis omnia cooperantur in bonum. (Rom. VIII, 28)

 

ERSTES KAPITEL

 

Davon, dass einige gewöhnlich über solch eine Vielfalt der Formen christlicher Religion erstaunt sind.

 

Da sich die meisten Leute gewöhnlich wundern, Fragen stellen und nachforschen, beschwören sie nicht nur für sich, sondern auch für die anderen ein Ärgernis herauf. Genauso wie hinterhältige Spitzel stellen sie folgende Fragen: Warum taucht so viel Neues in der Kirche Gottes auf? Warum entstehen so viele Orden in ihr? Wer kann all die Orden aufzählen? Wer ist nicht erstaunt über so viele Erscheinungsformen der Mönche? Wer nimmt schließlich keinen Anstoß daran und empfindet vor so vielen und verschienden Glaubensrichtungen, die jeweils voneinander abweichen, keinen Ekel und Ärger? In der Tat, wer verachtet nicht die christliche Religion, wenn sie sich einer solchen Vielfalt ausliefert, wenn sie sich durch so viele Erfindungen völlig verändert, wenn sie durch so viele neue Vorschriften und Bräuche durcheinander gebracht wird, wenn sie durch so viele Regeln und Gesetze, die sich fast jährlich erneuern, hin- und hergetrieben wird. So, sagen sie, wird von einigen im Namen des Himmelreiches etwas vorgeschrieben, was von denselben oder anderen sofort wieder im Namen des Himmelsreiches verboten wird. So ist das, was eben noch als frevelhaft verboten war, plötzlich als heilig und nützlich erlaubt.

 

Sobald solche Leute Muße haben, stellen sie Fragen und verderben die Herzen der einfachen Leute, indem sie behaupten, dass eine Religion, um so geringer zu schätzen sei, je unbeständiger sie ist. Wie, so fragen sie, kann etwas so unbeständiges, etwas so veränderliches und unstabiles für einen weisen Menschen der Nachahmung würdig sein? Seine eigene Vielfalt beweist nämlich, dass es abzulehnen sei. Und siehe, wir bemerken, wie in der Kirche Gottes, so sagen sie, Leute auftauchen, welche frei nach ihren Gelüsten ungewohnte Kleider anziehen, nach einer Ordnung leben, die sie sich selbst ausgesucht haben, und, je nachdem wie ihnen gerade der Sinn steht, entweder die Regel des klösterlichen Mönchsgelübdes oder die kanonische Lehre annehmen. Sie erfinden für sich eine neue Art die Psalmen zu singen, eine neue Art der Enthaltsamkeit, sie stellen neue Essensvorschriften auf und folgen weder den Mönchen, die nach der Regel des heiligen Benedikts leben, noch den Kanonikern, die sich an die Regel des heiligen Augustinus halten, sondern erfinden frei nach ihren Gelüsten Neues, sie sind ihr eigenes Gesetz, sie sind ihr eigenes Vorbild und sammeln diejenigen, die können, unter dem Vorwand der neuen Religion in ihren Gemeinschaften. Sie werden für sehr religiös gehalten, wenn sie sich nur in ihrem Äußeren und ihrer Lehre von allen anderen Glaubensrichtungen unterscheiden und wenn mit dem Finger auf sie gezeigt wird, weil sie im Vergleich mit den anderen auffallen.

 

Dieses und ähnliches behaupten sie und häufig belästigen sie andere durch Fragen, sie zerreißen zwar nicht offenbar, sondern verborgen und aus dem Hinterhalt den Glauben und während sie den Glauben huldigen und umarmen, sagen sie: „Ach, wenn wir doch irgendwo irgendetwas Verlässliches entdecken würden, woran wir in Erwartung des ewigen Heils zuversichtlich unser Haupt anlehnen könnten!“ Sie sind derart lästige Kritiker, dass, wenn sie einmal jemanden sehen, der von den Ideen des Glaubens abgewichen ist, sie weiterhin gegen jede Form der Religion hetzen. Während sie selber in Ehrfurcht vor Gott und in frommen Glauben verharren, schreiben sie die Verfehlung eines Einzelnen allen zu, verdammen und verstoßen alle anderen, wegen eines verirrten Abtrünnigen und beachten nicht, was im Evangelium geschrieben steht: „Das Himmelsreich ist gleich einem Netze, das ins Meer geworfen ist, womit man allerlei Gattungen fängt. Wenn es aber voll ist, ziehen sie es heraus, sitzen am Ufer und lesen die Guten in ein Gefäß zusammen, die Faulen aber werfen sie weg.“ Und in dem Gleichnis des Unkrauts: „Lasst beides zusammen wachsen, so dass ihr nicht zufällig, wenn ihr das Unkraut sammelt, zugleich den Weizen mit ausreißt.“ Außerdem behaupte ich, wenn jene, welche so über den Glauben streiten und selber die Vielfalt verleumden, wenn also jene selbst religiös sein wollten,  dann würde alles, was ihnen jetzt Ärgernis und Zerstörung ist, für sie selbst zu Verbesserung und Erbauung werden, so wie es geschrieben steht: „Großen Frieden haben, die dein Gesetz lieben; sie werden nicht straucheln.“ Und: „Den Frommen dienen alle Dinge zum Besten.“

 

 

 

Anselm
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